Artikel vom 29.06.2011, Druckdatum 15.11.2024 | |
Kipp-Elemente im Klimasystem: Forscher/innen verfeinern ihre Einschätzung Der Eisschild der West-Antarktis ist ein mögliches Kipp-Element im Klimasystem, das teils bereits gekippt sein könnte. Wissenschaftler/innen können nicht ausschließen, dass die Eismassen nahe der antarktischen Amundsen See bereits instabil zu werden beginnen. Dies ist eines der Ergebnisse einer jetzt in der Fachzeitschrift Climatic Change erschienenen neuen Einschätzung des gegenwärtigen Zustands von sechs potenziell instabilen Regionen im Klimasystem mit großen direkten Auswirkungen auf Europa. Die Wahrscheinlichkeit des Kippens dieser Elemente steigt im Allgemeinen mit dem Anstieg der globalen Mitteltemperatur, als Folge des von Menschen verursachten Ausstoßes von Treibhausgasen. „Wir zeigen hier nur eine Momentaufnahme des Wissensstands, aber sie ist in mancher Hinsicht schärfer als die zuvor gemachten“, sagt Anders Levermann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Zum ersten Mal hätten sich Experten für die verschiedenen möglichen Kipp-Elemente als Ko-Autoren zusammen getan, um gemeinsam einen Überblick zum Stand des Wissens über sogenannte klimatische Übergänge zu geben. Derartige Einschätzungen, das legt der Begriff schon nahe, entwickeln sich ständig weiter, wie Levermann betont. Allerdings werden die betreffenden Systeme immer besser begriffen. „Diese Vorgänge zu verstehen ist von entscheidender Bedeutung als Grundlage künftiger gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entscheidungen“, sagt Levermann. „Aus dem Blickwinkel der Risiko-Abschätzung muss die Wissenschaft – natürlich immer unter Hinweis auf Unsicherheiten – Betroffene und Entscheider mit Informationen über Wahrscheinlichkeiten und mögliche Wirkungen von klimatischen Übergängen unterstützen. Einfach Abwarten ist keine Alternative.“ Solch ein teilweiser Abbruch des westantarktischen Inlandeises wäre zum Beispiel gleichbedeutend mit einem zusätzlichen Meeresspiegelanstieg von 1,5 Meter, wie frühere Forschung zeigt. Die meisten Deiche in Europa können um nicht mehr als einen Meter erhöht werden, so die Studie. Danach muss das Hinterland verändert werden. Selbst wenn der vollständige Zerfall des Eisschildes der Westantarktis hunderte von Jahren dauern würde, wären die Auswirkungen erheblich. Zusätzlich zum globalen Meeresspiegelanstieg durch das Schmelzwasser würde auch die Anziehungskraft in Richtung des Südpols verringert – wo die Masse schrumpft, wird auch die Gravitation weniger. Hierdurch könnte der Meeresspiegelanstieg in Europa sogar noch verstärkt werden. All dies fließt in die Schlussfolgerungen der Forscher/innen mit ein. Das arktische Meer-Eis und die Gebirgsgletscher der Alpen werden unter den in der Studie aufgelisteten Elementen als diejenigen eingeschätzt, die am empfindlichsten auf die Erderwärmung reagieren. Geht das arktische Meer-Eis zurück, so kann dies Auswirkungen auf das System von Hoch- und Tiefdruckgebieten in der Atomsphäre über dem Nordatlantik haben – und hiermit auch auf die vom Atlantik kommenden Stürme in Europa. Ein Schrumpfen der Gletscher in den Alpen hat Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von Wasser in der Region, weil sich je nach Jahreszeit der Abfluss von Schmelzwasser in die Flüsse verändert. Mit einer Erwärmung von zwei Grad Celsius würden von den Gletschern nur kleine Reste bleiben. Ob es bei diesen zwei Kipp-Elementen eine Selbstverstärkung der Effekte gibt, ist unsicher. So könnte sich etwa der Rückgang beim arktischen Meer-Eis wieder umkehren, wenn die globale Mitteltemperatur sinkt – auch wenn ein solches Szenario nicht sehr wahrscheinlich ist. Das Risiko, bei der Abnahme der Ozonschicht über der Arktis einen Kipp-Punkt zu erreichen, werde unbedeutend, wenn die Menge von Chlor in der Stratosphäre unter das Niveau von 1980 sinkt, so die Einschätzung der Expert/innen. Dies werde voraussichtlich 2060 der Fall sein. Hohe Unsicherheit gibt es bei der großen Umwälzströmung im Atlantik, der sogenannten thermohalinen Zirkulation. Ihr möglicher Zusammenbruch könnte durch den Zustrom von Süßwasser geschehen, der seine Ursache im Schmelzen der Eisdecke auf Grönland und in veränderten Niederschlagsmustern hat. Die Unsicherheit in der zukünftigen Veränderung dieser Größen spiegelt sich in einer starken Unsicherheit über das Kippen der Ozeanströmung. Entsprechend bleibt, im Gegensatz zu den anderen Kippelementen, die Unsicherheit auch bei starker Erwärmung hoch. Andere Kipp-Elemente wie die Gletscher des Himalaya, der indische Monsun oder das Tauen der sibirischen Permafrostböden werden in der Studie nicht im Detail untersucht, da sie keine direkten Auswirkungen auf Europa haben, so die Autor/innen. Allerdings seien indirekte Auswirkungen durchaus wahrscheinlich. Der Begriff ‚Kipp-Elemente’ ist dadurch definiert, dass hier kleine äußere Störungen eine starke Reaktion auslösen. Dies könnte bei manchen so missverstanden werden, dass die Veränderung dieser Elemente immer selbstverstärkend und unumkehrbar sei. Zwar gehören zu den meisten Kipp-Elementen solche dynamischen Prozesse mit Selbstverstärkung, aber nicht zu allen. „Der entscheidende Punkt ist die hohe Empfindlichkeit gegenüber Veränderungen im globalen Klima”, erklärt Levermann. „Diese stellt ein Risiko dar, dessen sich die Gesellschaft bewusst sein muss.“ Artikel: Levermann, A., Bamber, J., Drijfhout, S., Ganopolski, A., Haeberli, W., Harris, N., Huss, M., Krüger, K., Lenton, T., Lindsay, R., Notz, D., Wadhams. P., Weber, S.: Potential climatic transitions with profound impact on Europe, Review of the current state of six ‘tipping elements of the climate system’. Climatic Change (2011) [DOI 10.1007/s10584-011-0126-5] Quelle: Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) |